Dienstleistungsfreiheit
Wenn ausländische ArbeitnehmerInnen in Deutschland auf Baustellen arbeiten, muss es nicht unbedingt so sein, dass sie das auf ihren Entschluss hin tun. Es ist sehr gut möglich, dass ihr Arbeitgeber sie dorthin geschickt hat. Dies geschieht dann im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit, die seit 1992 innerhalb der EU gilt.
Ein Unternehmen hat demzufolge die Möglichkeit, Dienstleistungen nicht nur in dem Land zu erbringen, in dem es angesiedelt ist, sondern auch in den anderen EU-Staaten. Und da ein Unternehmen das Direktionsrecht ausübt - also (in einigen Bereichen unbeeinflusst von Mitbestimmung) festlegen darf, was zu machen ist - kann es seine ArbeitnehmerInnen anweisen, wo sie zu arbeiten haben. Und so finden sich zum Beispiel portugiesische ArbeitnehmerInnen bisweilen unversehens auf deutschen Baustellen wieder. Die Dienstleistungsfreiheit betrifft nicht nur die Baubranche, sondern zum Beispiel auch das Transportgewerbe und private Dienstleistungen.
Ein Problem liegt natürlich darin, dass das Lohnniveau in den verschiedenen EU-Staaten unterschiedlich hoch ist. Ein Unternehmen aus einem Land mit niedrigem Lohnniveau - etwa Portugal (1995: 5,86 ECU im produzierenden Gewerbe) - kann seine Dienste natürlich preiswerter anbieten, als ein Unternehmen aus einem Land mit höheren Einkommen, wie Deutschland. Um Inseln unterschiedlichen Arbeits- und Sozialrechts zu verhindern, wurde von der EU eine so genannte Entsenderichtlinie verabschiedet, die festlegt, dass bestimmte Mindeststandards eingehalten werden, die dem entsprechen, was in dem Land, in dem die Leistung erbracht wird, üblich ist. Das gilt für einen Mindestlohn, aber auch für Sozialleistungen.
In Deutschland wird die EU-Entsenderichtlinie durch das Arbeitnehmerentsendegesetz umgesetzt. Dieses weist allerdings einige Mängel auf. So beschränkt es sich im Wesentlichen auf das Baugewerbe. Daneben ist seine Einhaltung schwer zu kontrollieren.
Einklagbar sind die Bestimmungen der Richtlinie nur auf individueller Basis. Ein/e Arbeitnehmer/in wird sich aus Furcht um seinen/ihren Arbeitsplatz natürlich zwei Mal überlegen, ob er/sie klagt, wenn er/sie zu gering bezahlt wird. Diese Schwierigkeiten werden bisweilen von ArbeitgeberInnen genutzt, um eine gewisse Grauzone zu schaffen. Ein Beispiel: Es werden korrekte Löhne gezahlt, gleichzeitig werden aber für die Unterbringung vor Ort immense Kosten abgezogen. Solche Praktiken sind nur formal rechtens.
Bei der Süderweiterung der EU gab es die Dienstleistungsfreiheit noch nicht. Deshalb bestehen Befürchtungen, dass bei der Verwirklichung der EU-Erweiterung nach Osten eine schwer zu kontrollierende Dienstleistungsfreiheit von Unternehmen in Anspruch genommen wird, um durch halblegale oder illegale Praktiken die Einkommensunterschiede für eigene Sonderprofite zu nutzen. Hier stehen die Gewerkschaften vor der Herausforderung, Regelungen zu finden, die das verhindern.
Eine andere Grundlage hat die Arbeit von WerkvertragarbeitnehmerInnen. Sie sind Beschäftigte eines Unternehmens außerhalb der EU. Über Werkverträge arbeiten sie mit deutschen Unternehmen zusammen, um ein Werk zu erstellen. Für den Zeitraum, den das in Anspruch nimmt, können WerkvertragarbeitnehmerInnen in Deutschland arbeiten. Grundlage dafür bilden bilaterale Verträge mit mittel- und osteuropäischen Staaten. Auch sie müssen nach deutschen Tarifen entlohnt werden.